Als Kinder haben wir oft Märchen, wie „Schneewittchen“, „Rapunzel“ oder „Die Schöne und das Biest“ geschaut oder gelesen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Lehre diese Erzählungen doch verbargen. Heute begreifen wir, dass die wahre Schönheit Schneewittchens nicht ihr Aussehen, sondern ihre inneren Qualitäten wie Güte, Mitgefühl und Tapferkeit waren, die sie zur Schönsten im ganzen Land machten. Was für uns zuvor nur als Unterhaltung diente, führte uns einige Jahre später die Realität vor Augen.

 Ähnlich wie diese Märchen sind der Ausdruck und die Wirkung „die Entzauberung des 21. Jahrhunderts“ zu verstehen. Die Interpretation dieser variiert je nach Leser, denn die Bedeutung der ,,Entzauberung“ wird nicht vorgegeben, vielmehr hängt sie von unserem Blickwinkel und unserer Betrachtungsweise ab. Die alte Bettlerin verzauberte den Prinzen zu einem Biest, ein Zauber, der durch die wahre Liebe wieder rückgängig gemacht werden konnte, aber zugleich verwandelte die gute Fee Cinderella in eine elegante Prinzessin, wobei der Zauber aber nur bis Mitternacht hielt. Wenn wir nun über die Entzauberung des 21. Jahrhunderts sprechen, reden wir etwa über die unschöne Vergangenheit und deren heutige Verbesserung oder doch umgekehrt?

Das 21. Jahrhundert ist durch eine Vielzahl von charakteristischen Merkmalen geprägt: Zu keiner Zeit war die Technologie so fortgeschritten wie im 21. Jahrhundert, vor allem in Bereichen wie Informationstechnologie, künstlicher Intelligenz, Robotik, Biotechnologie und Digitalisierung. In diesen Bereichen sind heute bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. Die Welt ist durch den Handel und die Migration stärker vernetzt als je zuvor. Durch Erfindungen wie Social Media, sei es Instagram, Facebook oder Tiktok, ist die Kommunikation mit Menschen in aller Welt für jeden möglich geworden. Ein ,,Internetfreund“ - was damals ein Fremdwort war, ist für uns heute Normalität geworden. Zugleich nimmt die kulturelle Vielfalt in vielen Teilen der Welt zu, was zu einem zunehmenden Bewusstsein für Multikulturalismus führt. Wir sind modern, wir heilen Krankheiten und wir forschen.

Und menschlich? Welche Fortschritte machte der Mensch hinsichtlich seiner Menschlichkeit?

Die Sklaverei wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika offiziell im Jahr 1865 abgeschafft und auch die Rassentrennung an öffentlichen Schulen wurde 1954 vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig erklärt. Dennoch ist Rassismus heute noch für viele ein großer Bestandteil ihres Alltags. Am 25. Mai 2020 wurde der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten ermordet, woraufhin weltweit Proteste unter dem Motto ,,Black Lives Matter“ ausgelöst wurden. In Deutschland erhielten Frauen nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1918 das Wahlrecht – 47 Jahre nach den Männern. Im Jahr 1958 waren Frauen das erste Mal in der Lage, auch ohne Erlaubnis ihres Ehemannes, arbeiten zu gehen. Trotzdem verdienen Frauen bis heute noch für dieselbe Arbeit weniger Geld und sind auch viel seltener in Führungspositionen vertreten. Frauen leiden auch im 21. Jahrhundert unter ihrer Objektifizierung und werden innerhalb vieler Kulturen und in den meisten Gesellschaften nicht als gleichberechtigt angesehen.

Bei der Betrachtung unserer Zeit wird deutlich: Unser Märchen ist anders als die bekannten „Die Schöne und das Biest“ und „Cinderella“. War es damals tatsächlich viel schlechter, um heute von einer Verbesserung sprechen zu können? Und war es damals viel besser, um eine Verschlechterung erwähnen zu können? Die Antwort lautet nein, doch worin besteht nun der Zauber unserer Zeit?

Es ist der Glaube, dass wir uns weiterentwickelt hätten, indem wir den Fokus auf das legten, was uns vergessen ließ, was uns als Menschen eigentlich ausmacht. Wir sind stolz auf unsere Technologien und neuen Innovationen, aber wir können bis heute nicht alle die eine Gemeinsamkeit unter uns verstehen und auch leben – das Mensch-Sein.

Die deutsche Publizisten Wilma Thomalla formulierte es wie folgt: „Es sind nicht die  äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern.“

Die Entzauberung des 21. Jahrhunderts ist somit nicht der Titel unseres Märchens, sondern viel mehr der Appell, der uns gleichzeitig belehrt: Unsere Entwicklung ist nicht abgeschlossen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Der angebliche „Zauber“ bezüglich der Annahme, dass heute doch alles „viel fortgeschrittener“ sei, muss anders benannt, vielleicht sogar rückgängig gemacht oder gar „entzaubert“ werden und ist kein Grund für unsere Bequemlichkeit. Es ist noch einiges zu tun!

G. Issa Q1

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